Der Freiraum
Städte sind Märkte. Beide brauchen Autonomie und Selbstbewusstsein. Der Weg in die Provinz führt über den Plan.
Die Welt ist eine Stadt
Das hat mit Poesie nichts zu tun, sondern basiert auf harten Fakten. Mehr als die Hälfte der Weltbevölkerung lebt in Städten, und wenn die Vereinten Nationen nicht ganz danebenliegen, dann werden zur Mitte dieses Jahrhunderts 70 Prozent aller Mitbürgerinnen und Mitbürger Städter sein.
Was fällt uns dazu ein? Erstens das Übliche: Die Welt wird enger. Und ich krieg’ sicher keinen Parkplatz. Vielleicht ist das alles aber gar nicht wahr. Vielleicht wird die Welt weiter durch die Stadt, und die Sache mit dem Parken löst sich auch irgendwie. Wir wissen es nicht.
Wir wissen überhaupt sehr wenig über den heute schon wichtigsten Wirtschaftsstandort, die Stadt. Um das zu ändern, machen wir mal einen Stadtrundgang. Halten wir es dabei mit dem guten alten Clint Eastwood, der sagte: „Ich reite in die Stadt, der Rest ergibt sich.“
Reiten wir los.
Das erste Ziel ist eines, das es laut Plan gar nicht geben darf. Eine Siedlung, die zum Inbegriff der chaotischen Stadt geworden ist. Ein Ort, dessen Namen Städteplaner und Politiker nicht aussprechen, sondern ausspucken: Favela.
Stadtrundgang, erste Station: Brasilien, Rio de Janeiro, Favela Rocinha, geschätzte Einwohnerzahl: 250 000.
Besonderheit: Das kommt davon, wenn man nicht plant
Die Favelas sind das Worst-Case-Szenario von Siedlung. Nicht planen? Dann kommt, sagen Planer und Politiker auf der ganzen Welt, möglicherweise eine Favela dabei raus, das Ergebnis „unkontrollierten Städtewachstums“ (Wikipedia). Holt das Reißbrett – rettet die Stadt. Wer sagt, dass die Stadt wie der Markt am besten gedeihen, wenn man so wenig wie möglich an ihnen herumdoktert, kriegt die Favela serviert. Die Stadt ohne Plan ist ein Elend. Wenn wir nicht planen, kommen wir nicht in die Stadt, sondern in die Slums. Das will niemand, auch die nicht, die sich diese Slums dann von den besseren Quartieren aus ansehen müssen. So wird jedem, der gegen die Planung der Städte Einspruch erhebt, die gute alte soziale Keule übergezogen. Favela bedeutet so viel wie Kletterpflanze, weil sich die Armenviertel meist entlang der Hügel der großen Städte emporranken. Immer wieder haben die wechselnden Regierungen versucht, die Chaos-Slums zu evakuieren. Aber es funktioniert nicht. Die Bewohner der Armenstadt leben lieber im eigenen Elend als in dem, das ein fürsorglicher Staat in Sozialwohnungsghettos für sie anrichtet.
Man muss nicht nach Brasilien fahren, um an der Idee, eine Stadt ohne Plan würde in den Untergang führen, zu zweifeln. Es genügt völlig, sich zwei Beispiele deutscher Stadtplanung vom Reißbrett ins Gedächtnis zu rufen. Städte, die komplett und in einem Stück aufgestellt wurden, in bester Absicht, mit guten Worten, zum Zeitpunkt ihrer Errichtung auf dem letzten Stand der Dinge: Bitterfeld und Eisenhüttenstadt.
Von Woody Allen stammt die Feststellung, dass er schon deshalb nicht aufs Land wolle, „weil dort die Manson-Familie lebt“. Nach Bitterfeld oder Eisenhüttenstadt ist er wohl nie gekommen.
Stadtrundgang, zweite Station: Bonn oder Berlin.
Besonderheit: Netzwerk oder Zentrale
Als vor 20 Jahren die Mauer fiel, hatte Deutschland wieder eine richtig große Stadt: Berlin, 3,4 Millionen Einwohner, Schuldenstand 60 Milliarden Euro, dreimal so hoch wie der Haushalt. Dementsprechend unbeliebt ist die deutsche Hauptstadt im Westen, wo man meint, für all das bezahlen zu müssen. Berlin gilt international als eine der lebenswertesten Städte, sie ist hip, wie es heißt, kreativ und zukunftsorientiert. Letzteres lässt sich nicht rechnen, nur hoffen.
Begäbe man sich auf die Suche nach einer Blaupause für die Stadt des 21. Jahrhunderts, Berlin hätte – außerhalb der Grenzen Deutschlands gute Chancen auf den ersten Platz. Dabei darf man allerdings nicht in Hamburg, München oder Stuttgart fragen, zum Beispiel. Dort finden sich relativ wenige Berlin-Liebhaber. Das liegt nicht nur an niederen Motiven der Mitbewerber um die Gunst als schönste und beste Stadt weit und breit. Die alte Bundesrepublik war von ihren Konstrukteuren, allen voran Konrad Adenauer, bewusst als dezentrales System angelegt worden. Es war das Gegenmodell zum Zentralismus der kommunistischen Staaten Osteuropas, zum Zentralismus auch der Nazis. Beides hasste Adenauer zutiefst. Zudem verabscheute er Preußen, den alten Zentralstaat. Berlin mochte Adenauer auch nicht besonders. Überdies lag Berlin in der DDR. Die Sowjets hasste Adenauer mehr als alles andere.
All das hat mit gut, edel und offen nicht viel zu tun, machte aber unterm Strich den Reiz der alten Bundesrepublik aus: Es sollte keinen Wasserkopf geben, schon gar nicht im Osten des Landes. Vom kleinen Provinzkaff Bonn aus ließ sich das demokratische Deutschland ebenso gut regieren wie von einer Millionenstadt aus. Jede größere Stadt erhielt ihren Teil an Bundesbehörden, von Flensburg bis Pullach. Es gab Städte, nicht die Stadt. Da mochten sich Hamburger und Münchener gelegentlich um den Titel der „heimlichen Hauptstadt“ zanken – die Realität stand dagegen: Viele unterscheidbare Städte, umringt von unterscheidbaren Regionen, die gemeinsam ein Zentrum bildeten, das sich immer wieder ergänzte und den Ausgleich herstellte. Nicht durch gute Worte, sondern durch ein System der Unterscheidbarkeit. Die alte Bundesrepublik war ganz weit vorn. Und der alte Adenauer hatte, ohne es zu wollen und lange bevor dieser Begriff in den allgemeinen Wortschatz floss, ein Land zum dezentralen Netzwerk gemacht.
Stadtrundgang, dritte Station: Rom.
Besonderheit: Eine Stadt ist kein Staat
Stadt – das heißt so viel wie Standort oder Stätte. Das klingt so ähnlich wie Staat – das vom lateinischen „status“ abstammt und so viel wie Zustand bedeutet. Die Stadt ist eben kein kleiner Staat, sie ist etwas grundsätzlich anderes. Die typischen Merkmale der Stadt liegen darin, dass innerhalb ihrer Grenzen Überschüsse erwirtschaftet werden. In den ersten Städten, die im Fruchtbaren Halbmond des Vorderen Orients vor rund 10 000 Jahren entstanden, bezeugen das bis heute die Überreste von Speichern und Lagerhäusern. Stadt ist, wo man die nackte Existenz überwindet.
Die Stadt ist ein Tausch- und Marktplatz, der Ort, an dem Wirtschaft passiert. Das Umland liefert die Rohstoffe für die Verfeinerung und den Handel. Die Stadtbürger spezialisieren sich, sie tauschen und handeln ihre Fähigkeiten, Produkte und Talente, sie nutzen eine gemeinsame und damit leichter zu schaffende wie auch zu erhaltende Infrastruktur. Die Stadt ist komplex.
All das macht sie zum natürlichen Feind des Staates.
Das, was wir Staat nennen, ist, verglichen mit dem Ort der Ökonomie, der Stadt, blutjung. Der moderne Zentralstaat hat sich vor 400 Jahren entwickelt. Viele scheinbare Widersprüche verschleiern diesen gewaltigen Unterschied. Rom war zwar das erste globale Imperium, und deshalb wird das sogenannte Römische Reich (wie man es im Nachhinein nannte) als Staat gedacht. Tatsächlich war es mehr als eine historische Floskel, die die Legionäre auf ihrer Standarte vor sich hertrugen, das berühmte SPQR – Senatus Populusque Romanus – für Senat und Volk von Rom. SPQR war eine Souveränitätsformel. Selbst in der Kaiserzeit war dieses Symbol allgegenwärtig. Derlei kannte man auch schon vorher, in den sogenannten Stadtstaaten Griechenlands und Vorderasiens. Der Stadtbürger hatte Rechte. War man Römer, also Bürger, hatte man Freiheiten. Das mochte in Rom nicht immer viel gelten aber es war mehr, als die meisten Potentaten rund um Rom für ihre Bevölkerung im Programm hatten.
Selbstbewusste Städte haben das römische SPQR auf ihre Mauern und ihre Siegel gesetzt, in eigenen Varianten. Die stolzen und unabhängigen Stadtbürger von Lübeck werden sich auf ihr Holstentor S.P.Q.L. einmeißeln lassen, Jahrhunderte später. So machen es auch die Nürnberger, S.P.Q.N. Und andere Städte, in denen eine freie Wirtschaft und ein florierender Handel der wichtigste Schutz vor den ständigen Begehrlichkeiten von Kaiser und aufkeimender Zentralgewalt ist. Die Zentralisten hassen die Städte.
Stadtrundgang, vierte Station: Die freie Stadt.
Besonderheit: Stadtluft macht frei
Stadtluft macht frei, heißt es im Mittelalter. Das ist zu diesem Zeitpunkt keine Phrase, sondern ein Rechtsgrundsatz. Um das Jahr 1000 wird das finstere Mittelalter für einige Zeit etwas heller, weil die alten Zentralgewalten der Kirche und der Landesfürsten an Einfluss verlieren. Leibeigene Bauern und Landarbeiter gründen Siedlungen, aus denen Städte werden, und ihre wirtschaftlichen Erfolge geben den nächsten Generationen von Zuwanderern neue Chancen. Wer als Unfreier in die Stadt kommt und ein Jahr lang dort bleibt und sich nützlich macht, wird vom „Hintersassen“ zum „Insassen“, zu einem, der innerhalb der schützenden Mauer der Stadt leben und arbeiten darf. Dieses Recht bekämpfen Fürsten und Kirchen mit allen Mitteln.
Vom 12. und 13. Jahrhundert an aber sind die Städte die Zentren der neuen Wirtschaft, des Handels, der Erfindungen, der Experimente – und den alten und brutalen Landherren weit überlegen. Die Bürger bauen Kathedralen, die sie nicht nur zum Gottesdienst besuchen. Werktags sind sie Versammlungsräume für die Bürgerschaft. Die Zentralisten hassen diese Autonomen abgrundtief. Jahrhundertelang werden sich im Heiligen Römischen Reich die Kaiser mit den Städten bekriegen. Das Ziel der autonomen Stadt war die „Reichsunmittelbarkeit“, die „Freie Reichsstadt“, die sich ihr Recht weitgehend selbst geben konnte, die ihre Entwicklung selbst in die Hand nahm. Autonome Städte wie Augsburg sind in dieser Zeit in Handel, Finanzen und Technologie führend. Rundum blühen kreative Cluster. Und natürlich beharren die Bürger darauf, die Erträge ihrer Arbeit für sich selbst zu beanspruchen.
In den oberitalienischen Städten entwickelt sich im 14. Jahrhundert allmählich das, was wir heute als moderne Marktwirtschaft kennen, die ersten kapitalistischen Züge kommen zum Vorschein. Man fördert Vorhaben durch Kredite, erfindet den Wechsel, gründet Banken, konzentriert sich auf gemeinsame Pläne, finanziert Seereisen und organisiert den Handel. Nichts von dem bringen die Zentralisten zustande. Sie wollen nur den Zugriff darauf. Je stärker der Druck wird, desto besser organisieren sich die Bürger der freien Städte. Sie erhalten „Privilegien“, Vorrechte, doch dieser von Kaisern und Fürsten geprägte Begriff führt in die Irre. Es handelt sich nicht um Privilegien, die verliehen werden. Die Städte haben sich, notfalls auch mit militärischer Gewalt, gegen den Zugriff der Zentralisten gewehrt und durchgesetzt.
Die Autonomen, die freien Städte, verbünden sich zu Netzwerken – etwa der Hanse – oder zu Städtebünden wie in Sachsen, dem Rheinland und in Schwaben. Die Erfolge sind in ganz Europa zu sehen – und der Konflikt zwischen den Autonomen und den Zentralisten eskaliert im Dreißigjährigen Krieg, der ein Krieg zwischen dem selbstbewussten Bürgertum und der alten Macht ist, die alles auf eine Karte setzt. In Deutschland verlieren die Städte. In Schweden, den Niederlanden, aber auch in England gewinnen die Städter die Macht; die Wirtschaft, wie wir sie kennen, ist ihr Produkt. In Deutschland hingegen beugen sich die Städte. Der Preis, den sie dafür zahlen, ist hoch – ihre Entwicklung stagniert über Jahrhunderte.
Nach und nach unterstellen sich die Städte der Zentralgewalt. Doch das genügt nicht. Die Herrscher haben nicht vergessen, dass sie gelegentlich sogar aus ihren Residenzstädten flüchten mussten, zuletzt 1848, als die Revolution noch einmal die Freiheitsbestrebungen der Bürger – also der Stadtmenschen – ausbrechen ließ. Der Kaiser und seine Beamten flüchteten aus Wien, schickten Truppen, stellten Bürger an die Wand. Aber auch das reichte den Zentralisten nicht.
Stadtrundgang, fünfte Station: „Cheng“.
Besonderheit: Auf dem Land hört dich niemand schreien
Im 19. Jahrhundert begannen die Herrschenden, die Machtsymbole der alten Stadt zu vernichten. In Wien ließen die Habsburger die gesamte Stadtbefestigung schleifen – und errichteten an ihrer Stelle Prachtbauten, die die ganze neue Herrlichkeit des Nationalstaates zeigen sollten.
Als im Januar 1949 in Peking der neue Große Vorsitzende Mao Zedong die Stadt besetzt, ist das erste, das wichtigste Vorhaben des neuen Machthabers, die alte historische Mauer der Kaiserstadt einreißen zu lassen. Jeder soll sehen, dass die Symbole in Staub aufgelöst werden. Weg damit. Das chinesische Zeichen „Cheng“ bedeutet zweierlei: Stadt und Mauer. Hier wird klar, was die Stadt auch immer war: Schutz gegen die Barbarei, die Willkür, die Unfreiheit, die draußen herrschte, auf dem Land, wo immer schon Unheil drohte. Das Problem ist offensichtlich: In der Stadt wird gedacht und gemacht, hier wird Wirtschaft vorangetrieben und damit Autonomie, also alles, was Herrschern zuwider ist. In der Stadt macht man sich Gedanken – und noch schlimmer: Diese Gedanken werden ausgetauscht. Deshalb verbannen die Zentralisten Querdenker, wenn sie sie nicht gleich umlegen, aufs Land, wie Galileo Galilei. Russische Regimegegner verfrachtet man nach Sibirien, wo keine Städte sind, in denen sich Opposition verbreiten kann. Intellektuelle zwingt Mao zu mörderischer Zwangsarbeit auf dem Land. Pol Pot ahmt es in Kambodscha wenige Jahre später nach. Intellektuelle und Städter sind dabei bereits ein und dieselbe Kategorie. Gefährlich ist, wer nachdenkt und sich auch noch mit jemandem austauschen kann.
Auf dem Land hört dich niemand schreien.
Die Mauer trennt die Stadt vom Staat. Die Mauer muss weg. „Auch in Europa dienten Stadtmauern nicht nur dem Schutz nach außen und der Kontrolle nach innen sowie der Abgabenerhebung“, schreibt der Sozialhistoriker Wolfgang Reinhard dazu, „sondern galten auch als Symbol der kommunalen Autonomie.“ Doch nun war Hauptstadt angesagt. Prahl-, Prunk- und Aufmarscharena für Zentralherrscher. Die Nachfolger der adligen Zentralisten im 19. Jahrhundert waren ganz besoffen von der Idee, die Stadt neu zu planen und zu bauen – und damit endlich auch deren Bürger in das „Große und Ganze“ mit einzubinden. „Die autonome Stadt war politisch untragbar geworden. Der moderne Staat, der jetzt voll ausgebildet war und über mehr Ressourcen verfügte als je zuvor, brauchte ein sachlich wie symbolisch passendes Gehäuse“, so Reinhard.
Stalin schliff das Gehäuse in Moskau, Hitler in seiner Hauptstadt Berlin. Sein Adlatus Albert Speer plante gemeinsam mit dem Führer, der aus der tiefsten oberösterreichischen Provinz kam, die „Welthauptstadt Germania“, ein größenwahnsinniges Vorhaben mit einer Nord-Süd-Achse von 40 Kilometern Länge, die hin zur „Großen Halle“ führen sollte, einer Betonspannkuppel mit einer Höhe von 290 Metern, unter der 180 000 Menschen Platz gefunden hätten. Für das monströse Projekt hätte man in Berlin 50 000 Wohnungen in Schutt und Asche legen müssen. Den Job erledigten alliierte Bomber.
Gewiss: Gegen Hitlers Pläne wirkt die neue Berliner Mitte bescheiden. Aber sind die wuchtigen Neubauten, das Stahlbeton-Geprotze des Regierungsviertels bis hin zum Potsdamer Platz wirklich Symbole einer freien und offenen Gesellschaft? Oder zeigt hier nicht einmal mehr der Staat, wie er aussieht, wie er sein will – groß, kompakt, schwer? Der Bürger gehört zur Kulisse. Das Kollektiv soll Ehrfurcht haben. Das Kollektivteilchen darf sich ein wenig größer vorkommen, als es ist. Freiräume sehen anders aus.
Kurt Helm schuf Ende der 1990er Jahre ein umfangreiches Arrangement an Figurengruppen. Die allegorische Szene Sprachlos vor leeren eimern trifft eine Aussage über die politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse zur Schaffenszeit Kurt Helms. Die in ihr verborgene Kraft lässt sich jedoch ebenso gut in unsere Gegenwart überführen.
Stadtrundgang, sechste Station: Brutalismus.
Besonderheit: 2,25 Meter sind hoch genug für die Wohnmaschine
„Wir werfen bewusst hergebrachte Konventionen in Lebenshaltung und Wohnen ab. Es zeigt sich ein neuer Lebenswille, welcher Ausdruck sucht in Wohnung, Staat und Kunst. Ohne diesen Kollektivwillen wäre (...) die Arbeit großer Männer und Architekten zwecklos (...). Wir schulen unser Formgefühl an den reinen Zweckformen der Technik und Industrie. Das sind die Kinder unseres Geistes.“
Das klingt ein bisschen nach Hitler, ein wenig nach Stalin, es könnte auch Mao gewesen sein, es war aber einer, der im bürgerlichen Bildungskanon ganz oben mitschwingt. Geschrieben hat diesen Schwachsinn der einflussreichste Architekt des 20. Jahrhunderts, Charles Edouard Jeanneret-Gris, der sich Le Corbusier nannte. Wir verdanken ihm wenigstens die Einsicht, dass Menschen in der Stadt nicht am Rande schmutziger Industriezonen hausen sollen. Sonst verdanken wir ihm das Aussehen und die Definition von Stadt, wie sie sich heute zeigt.
Was Le Corbusier 1933 in der Charta von Athen schreibt, aus der das Bekenntnis zum maschinengerechten Stadtbauen stammt, trennt die Stadt in drei Sektoren. Die Innenstadt ist der Verwaltung, dem Handel, den Banken, dem Einkaufen und der Kultur vorbehalten. In einem dichten Ring um diese Stadt und voneinander getrennt entstehen die Quartiere der Industrie, des Gewerbes und Wohnanlagen. Die Peripherie der Stadt besteht aus Satellitenstädten mit reiner Wohnfunktion. Dieses Modell kennen wir alle, wir sehen es täglich. Und wir sehen, wie die Innenstädte veröden und die maschinengerechte Systematik der Stadt das Verkehrschaos anheizt. Wir sehen, wie aus den auf dem Reißbrett so eindrucksvollen Trabantenstädten neue Ghettos wurden. Die Stadtmaschine ist ein Irrtum.
Die Zentralisten im 19. Jahrhundert räumten mit den verhassten Freiheitssymbolen der Stadt auf. Ihre bürgerlichen Nachfolger, deren Messias Le Corbusier wird, verherrlichen die Grundlage ihrer Macht: die Maschine, die Industrie.
Dieses Wesen soll überall wirken. Funktionalität nennt man das, und es ist, wie so oft, das genaue Gegenteil dessen, was behauptet wird. Eisen, Beton, Quader, schallharte Materialien, die man industriell fertigen kann, werden zum wichtigsten Rohstoff des Bauens.
Es gibt viel zu bauen nach dem Zweiten Weltkrieg im zerstörten Europa. Die industriellen Stadtmacher sind überall. Jedes noch so wahnwitzige Satellitenstadtprojekt wird als soziale Großtat verkauft. Man verdrängt kleine Händler und Läden, aber auch unzählige Mieter aus den Innenstädten, wo sie nach Plan I – wie Industrie oder Irrsinn – nicht hingehören. Der Kampf der Zentralisten, die Menschen und ihre Lebensräume fest im Griff, unter Kontrolle haben wollen, geht in die nächste Eskalationsstufe.
Es wird brutal.
Le Corbusier liebt als Baustoff ganz besonders den sogenannten Sichtbeton. Bei dem zeichnen sich die Abdrücke der Bretterverschalung nach dem Trocknen klar ab. Es gibt keinen Putz, keine Farbe. Im Französischen heißt dieser Baustoff béton brut – und er gibt dem Baustil seinen Namen: Brutalismus. Die Rohheit kommt in die Städte. Es ist unübersehbar. Le Corbusier nennt seine Wohnhäuser „Wohnmaschinen“ – und das ist ganz ernst gemeint. Seine unzähligen Epigonen bauen wild nach dieser Methode. Das Modell wird Vorbild für die Plattenbauten der DDR und die meisten trostlosen Trabantenstädte in Ost und West. „Die reinen Zweckformen der Technik und Industrie“ sind Le Corbusier nicht genug. Wer nach industriellem Standard plant, muss auch den Menschen in diese Norm einpassen. Seit 1942 arbeitet Le Corbusier an seinem „Modulor“, einem Proportionssystem, bei dem ein normierter Durchschnittsmensch alle weiteren Maßreihen bei Bauten beeinflusst. Der Standardmensch ist zunächst 1,75 Meter groß, eher ein Männchen, in den fünfziger Jahren darf er auf 1,83 Meter wachsen. Le Corbusier legt fest, wie hoch Decken sein dürfen und wie breit Räume, alles so angelegt, dass der „Modulor“ reinpasst – gerade eben. Das Meisterwerk dieses Brutalismus steht in der Nähe der französischen Stadt Lyon. Es ist das Kloster Sainte-Marie de La Tourette. Das ganz besondere Tourette-Syndrom zeigt sich nicht nur von außen, in einem grauen Klotz, der an einen Flakturm aus dem Zweiten Weltkrieg erinnert. Die Zellen der Dominikanermönche zeigen, wie man „bewusst hergebrachte Konventionen“ abwirft: Sie sind alle 2,26 Meter hoch und 1,83 Meter breit.In Berlin baut Le Corbusier ein Wohnhaus – er nennt es Wohneinheit –, aber die Behörde fordert eine Deckenhöhe von zweieinhalb Metern. Der Meister distanziert sich. 25 Zentimeter mehr Freiraum sind für ihn nicht akzeptabel.
Nadine Adams Modell von Halle-Neustadt setzt sich mit den Strukturen und Formen der geplanten Modulstadt auseinander und geht der Analogie zu Zellwänden nach. Auch politische Grenzen sind nicht abgeschirmt, sondern hinsichtlich bestimmter Ideen osmotisch durchlässig. Ihre Arbeit ist eine Diagrammatik des Diffundierens und der Transformation.
Stadtrundgang, siebte Station: Können, nicht müssen.
Besonderheit: Vertrauen reguliert die Stadt
Das ist Starrsinn nach Plan, nichts weiter. Und menschenverachtend obendrein. Viele sind heute von Le Corbusier abgerückt – aber sein Geist schwingt im großspurigen Besserwissen darüber, was gut ist, gesund und richtig, überall mit. Kaum jemand sagt: Das weiß der Mensch schon selbst. „Es ist wie sonst auch im Leben – Städte sind nicht, wie Stadtplaner sie wollen. Da gibt es Zufälle, und die sind die Grundlage für alles Weitere“, sagt der Münchener Soziologe Armin Nassehi, der sich seit Jahren mit dem Urbanen und seinen Formen beschäftigt: „Die Stadt ist ein Markt, und das heißt immer, es gibt viele Möglichkeiten. Wenn man die Leute fragt, was sie an Städten schätzen, dann sagen sie oft: ,Ich könnte ins Kino, ich könnte in dieses oder jenes Theater oder sonst was machen.‘ Aber sie müssen nicht. Das ist der klassische Freiraum – man kann, aber man muss nicht.“ Das nennen manche Möglichkeitsräume, kein schönes Wort zugegebenermaßen, aber richtig. Diese Möglichkeitsräume sind ein Zeichen für eine entwickelte Zivilisation. Wir haben die Wahl, und wir lernen am Stadtbewohner, dass wir nicht alles haben müssen, was es gibt. Die Stadt zwingt zur Entscheidung, denn ihr Überflussangebot ist allgegenwärtig. Nur wer lernt, darüber nachzudenken, was er will, kommt hier durch.
Und noch was: Nur wer lernt, dass man Regeln braucht, um mit anderen so zu leben. „Wer in großen Strukturen lebt, der muss anderen mehr vertrauen, und er muss sich auch selbst regulieren“, sagt Nassehi. “In der Stadt ist es sehr schnell klar, dass nicht jeder machen kann, was er will, man schwimmt im Strom, was mir nützt, nützt auch anderen. Wenn jeder macht, was er will, könnte niemand U-Bahn fahren oder auf die Straße gehen. Städter glauben an Regeln – die auf Vertrauen basieren.“
Vertrauen statt Kontrolle und die Fähigkeit zu entscheiden – das sind zentrale Merkmale einer Spezies, die der amerikanische Ökonom Richard Florida „die kreative Klasse“ nannte. Der, sagt heute nicht nur Florida, gehört die Zukunft. Ohne Stadt ist das nicht vorstellbar. Leute, die sich entscheiden können, tun das heute im globalen Maßstab. In welcher Stadt sie leben, hängt davon ab, was die zu bieten hat. Was das sein kann, darüber zerbrechen sich Kommunalpolitiker auf der ganzen Welt den Kopf. Man geht nicht mehr nach Amerika, man geht nach Palo Alto oder Seattle. Man will auch nicht mehr in Deutschland leben, sondern in Berlin, Hamburg oder München.
Die Konsequenz ist einfach: Unternehmen folgen den Qualifizierten und Kreativen, den Ideenarbeitern. Und auch die Unternehmen fragen: Was wollen die eigentlich? Die Wirtschaftsgeografin Anne von Streit und ihre Kollegin Sabine Hafner von der Ludwig-Maximilians-Universität in München sind dieser Frage nachgegangen. Ihre Studie heißt München – Standortfaktor Kreativität, und was sie herausgefunden haben, das gilt wohl auch für die meisten anderen Städte, die sich heute um kluge Köpfe bemühen.
Die Neubürger, die heute selbstständig denken und damit ihr Geld verdienen, mögen keine Wohnmaschinen. Ihre „bevorzugte Wohnlage“ ist die Innenstadt. Fast 63 Prozent der von den Forscherinnen befragten Leute wollen dort leben – und mehr als die Hälfte tun es auch. Das sind mehr als doppelt so viele wie bei der Kontrollgruppe, also den Durchschnittsangestellten, für die man im Allgemeinen Politik macht und Städte plant. Wo arbeiten die Neubürger? Überall, nur nicht im Büro, fanden die Forscherinnen heraus. Mehr als 85 Prozent sind auch zwischen sieben und zehn Uhr abends noch bei der Arbeit – doppelt so viele wie bei den Normalos.
Und 71,5 Prozent der neuen Bürger arbeiten vorwiegend von zu Hause aus. „Aufs Land wollen die wenigsten“, weiß Anne von Streit, und auch dafür gibt es einen triftigen Grund: „Die Leute arbeiten konzentriert und ohne große Infrastruktur – und was Angestellte sich im Büro holen, soziale Bestätigung und Kontakte, das holen sich die Kreativarbeiter eben in einem lebendigen Umfeld in der Stadt.“ Der selbstbewusste, selbstständige Bürger erobert sich die Stadt zurück – die lange Jahre nur Verwaltungszentrum, Hauptstadt und Verwaltungszentrum der Industrien vor der Stadt war.
Für die neuen Bürger und ihre Bedürfnisse wird sich die Stadt auch ändern müssen, noch mehr als bisher.
Aber, so lautet die alte Frage, was kann man konkret tun? Mehr Kino? Mehr Theater? Lustige Umzüge? Karneval? HipHop? Weniger Wahlplakate? Mehr Bars? Was? Wie bitte?
Genau, richtig gehört: ganz ruhig bleiben.
Stadtrundgang, achte Station: Linz.
Besonderheit: Demokratie ist, wenn man hört, was man will
Linz, ausgerechnet. Die oberösterreichische Industriestadt stand viele Jahrzehnte für eine Reihe unschöner Dinge. Adolf Hitler ist in dieser Stadt aufgewachsen. Und sozusagen als Dankeschön errichteten die Nazis ein Schwerindustriezentrum, die Reichswerke Hermann Göring, eine riesige Stahlfabrik. Linz war das Synonym für hässlich, schmutzig, laut. Die verstaatlichte Stahlindustrie gibt es nicht mehr. Geblieben ist ein Hightech-Anbieter, die Voestalpine AG, und eine Stadt, die man nicht wiedererkennt. Hier findet seit Jahren das Avantgardefestival Ars Electronica statt. Hier lebt und wirkt Peter Androsch, Komponist und künstlerischer Leiter der Sparte Musik der Kulturhauptstadt Linz 2009. Wer ihm zuhört, der versteht schnell, warum Linz, das ehemalige Schmuddelkind der Alpenrepublik, heute den Ruf genießt, ein Prototyp für die Stadt der kreativen Bürger zu sein.
„Wir arbeiten hier an der akustischen Raumplanung”, sagt Androsch, und dann legt er los, ein lebendes Lexikon in Sachen Klang, Ton, Lärm. Er redet über die Zwangsbeschallung in Geschäften und in öffentlichen Räumen, der man nicht entrinnen kann. In Linz haben auf seine Initiative hin Läden und Kaufhäuser in der Innenstadt ihre „Kaufhausmusik“ abgestellt. Er spricht über das Gehör, das man nicht so einfach abstellen kann, und wie viele Informationen auf uns einprasseln, die uns krank machen und unkonzentriert, die Kopfarbeit unmöglich machen. Er redet über falsche Architektur: „Vor hundert Jahren konnten Architekten Versammlungsräume noch so gestalten, dass man ohne Beschallungsanlage eine Rede halten konnte. Versuchen Sie das heute mal. Unmöglich!” „Er wettert gegen industriell gefertigte „schallharte Materialien“, Stahl, Beton, Glas also, die an Fassaden in Stadthäusern den Schall reflektieren und damit verdoppeln.
Er weiß, dass die meisten Büro- und Wohngebäude Versorgungsschächte für Kabel und Leitungen haben, die „funktionieren wie der Resonanzkörper eines Instruments“. Man hört mittlerweile auf Leute wie Androsch: In der Industriestadt Turin hat man einen Tag gegen den Lärm ausgerufen. Androsch und seine Mitstreiter wissen, wie wichtig das Lärmbewusstsein für die Entwicklung der Stadt ist, in der Wissensarbeiter und Kreative schaffen: „Es geht nicht um Stille, es geht darum, dass wir endlich anfangen, ernst zu nehmen, was wir hören.“
Das ist ein handfestes Argument. Wer seine Sinnesorgane mit sinnlosen Informationen überreizt, wird krank – eine Zunahme von Herzinfarkten und gefährlichem Stress als Folge von Lärmüberflutung ist längst nachgewiesen. Städte, die ihre Bewohner nicht vor Lärmsmog schützen, vor unerwünschtem Krach, sind miese Orte für Wissensarbeiter. Und wer gegen die handelt, verrechnet sich. Peter Androsch weiß das. Der Komponist und Kulturmanager hat auch mal Volkswirtschaft studiert. Er weiß, dass das Gute sich rechnen soll. Und dass man Angebote machen muss: Linz soll „zum Akustikzentrum der Welt“ werden. Eine Stadt als Labor und Vorbild für den richtigen Umgang mit laut und leise, Klängen und Tönen.
Mit Gleichgesinnten hat er ein Akustisches Manifest geschrieben – und es im französischen Le Figaro publiziert, in der Zeitung also, in der Filippo Tommaso Marinetti im Februar 1909 sein Manifest Le Futurisme veröffentlichte. Der Lieblingsort des Futuristen ist die „lärmende Stadt“, und Marinetti will sich selbst und andere zum „Maschinenmenschen“ machen. Faschisten und Kommunisten finden das gleichermaßen toll. Diktaturen sind laut und brutal. Sie fragen nicht, sie brüllen. Reih dich ein, Genosse, dicht geschlossen. So etwas darf nicht mehr gehen. Demokratie ist ein ruhiges Geschäft. Und es ist, sagt Androsch, höchste Zeit, über die „Demokratisierung des Gehörs“ nachzudenken.
Zu hören, was man will.
Stadtrundgang, neunte Station: Favelas. Berlin. Clint Eastwood.
Besonderheit: Lerneffekte
Die Demokratie ist eine städtische Erfindung. Sie lehrt, dass das Große dem Einzelnen dient. Der Bürger, der städtische Mensch, hat keine Mühe mit dieser Übung. Ruhe ist oberste Bürgerpflicht, und das heißt nicht spießige Ruhe, sondern soziale Verantwortung, die man auch Rücksicht nennen kann. Die Stärke der Stadt ist es, Menschen zu integrieren und sie, genauso wichtig, in ihrer Entwicklung in Ruhe zu lassen. Chancen anbieten, aber keine aufzwingen. Das lehren auch die Favelas. Man schleift sie nicht mehr. Nun baut man Wasserleitungen, Kanäle, legt Kabel. Eine Chance anbieten also und auf Eigeninitiative setzen. Das ist nicht perfekt, kein großer Wurf. Aber es ist besser. Es ist echt. Es schafft Vertrauen.
Das braucht man in Rio und anderswo, etwa in Berlin. Die Stadt hat weltweit einen guten Ruf. Sie gilt international als Metropole der Kreativen, ihr wird – wenigstens im Ausland, wo niemand eine Hauptstadtallergie hat – ein großes Zukunftspotenzial zugestanden.
Eckard Minx, Leiter der Gottlieb-Daimler-und Karl-Benz-Stiftung, Berliner und Mitglied im Berlin-Board des Bürgermeisters, erklärt, warum das so ist. „Unser Glück ist, dass wir während der Trennung der Stadt, also mehr als 50 Jahre lang, nichts Großes gemacht haben, nichts entwickelt haben – zumindest nicht im Sinne großer Planung. Die Stadt wurde einfach in Ruhe gelassen. Deshalb kann man hier neues Wissen schaffen und experimentell erproben.“ Zumindest, wird man hinzufügen müssen, dort, wo die Beeindruckungsarchitektur der Mächtigen noch nicht die Freiräume behindert. Ein Glück, wenn Politik nicht alles gleichmachen kann. Das ist die Quintessenz zur Stadt: Die braucht Ruhe, um sich zu entwickeln. Clint Eastwood hat natürlich recht: Reiten wir in die Stadt. Der Rest ergibt sich.